17.12.10

Das Gespräch I

Vor kurzem erschien von Günter Röschert ein kleines Büchlein "Das freie Hochschulgespräch als umgekehrter Kultus - Das Existenzproblem der Freien Hochschule". Darin fasst er einige bereits früher veröffentlichte Artikel zum Thema Gespräch oder Hochschulgespräch zusammen.

Zunächst sei hier das Ende seiner Ausführungen (S.78f) zitiert:
Ausblick 
Gesprächen über Inhalte der Geisteswissenschaft im weiteren Sinne kann entgegengehalten werden, dass entscheidende spirituelle Erfahrungen, schon auf dem Gebiete des intuitiven Denkens, nur vom einzelnen Menschen erlangt werden können. Das ist sicher richtig, doch bedarf auch jede ernsthafte eigene Erfahrung der Bestätigung und Rechtfertigung durch eine wie immer geartete Gemeinschaft. Das Verhältnis persönlicher Einsichten oder auch nur Vermutungen zu den Vorgängen im Gespräch mit anderen Menschen ist ein Verhältnis wechselseitiger Hilfe und Befruchtung, wie es das dialogische Prinzip in einer Hochschule oder Akademie erfordert. Im Werke Rudolf Steiners ist eine kaum auszuschöpfende Fülle möglicher Forschungsinhalte veranlagt. Man könnte nun meinen, es müsse ganz leicht sein, mit erfahrenen Anthroposophen ins Gespräch zu kommen, ohne dass irgendeine signifikante Persönlichkeit ins Dozieren oder gar ins Verkünden kommt. Irrtum! Schon nach wenigen Versuchen zeigt sich, dass es ungeheuer schwer, für manche Menschen unerreichbar schwer ist, ein verantwortliches Gespräch mit anderen Menschen, vorrangig um des Gesprächs selbst willen, zu führen. Gerade der vielfach vorhandene, in Jahren oder Jahrzehnten angesammelte Wissensstoff kann zum schweren Hindernis für den überpersönlichen Gesprächsverlauf werden. Die Überzeugung, man bilde in einem anthroposophischen Gesprächskreis das Gefäß für die Herabkunft geistiger Wesenheiten, ist gewiss nicht falsch, zunächst aber handelt es sich um reine Anmaßung.
 Es darf nicht übersehen werden, dass ein anthroposophisches Hochschulgespräch einer sicheren moralischen Basis bedarf. Im Übrigen ist ganz offen, welche Geister sich einer Gesprächsgruppe nahen. Bei näherem Bedenken zeigt sich, dass die Gesprächsbeteiligung einer seelisch‑geistigen Fähigkeit bedarf, die Rudolf Steiner als «moralische Phantasie» bezeichnet hat und die das geheime Zentrum seiner Freiheitsphilosophie ist. Die moralische Phantasie ist das Wahrnehmungsorgan für die inneren Erfordernisse jeder Situation, also auch jeder Gesprächssituation. 
Alle geisteswissenschaftlichen Forschungsbereiche ‑ und das bedeutet auch alle Mitteilungen Rudolf Steiners ‑ bedürfen fortlaufender Prüfung und Bewegung in Gesprächen, die der geistigen Welt zur Akzeptanz oder Abweisung angeboten werden. Ob dies geschieht und in welcher Konsequenz, ist das Existenzproblem der Freien Hochschule.