20.2.10

Das Lesen von Texten in Zweigen und Arbeitskreisen

Es ist heute vielfach in den Zweigen üblich, dass Steiner-Texte in Abschnitten gelesen werden und dass dann darüber gesprochen wird. Auf diese Weise können die Zuhörenden sich einbringen, es entsteht der Anschein von mehr Gemeinsamkeit und Gleichberechtigung. Das Gespräch über die Inhalte tritt in den Vordergrund. Damit treten natürlich auch die Sprechenden, die Mitglieder in den Vordergrund, die Viel-Wissenden, die Viel-Redenden, die Viel-Fragenden. Am Ende einer solchen Veranstaltung ist dann das Wort Steiners manchmal völlig überlagert von den Meinungen und Emotionen der Teilnehmer. Der Glanz der geistigen Inhalte verblasst. Wie bei „Hans im Glück“ wurde das „schwere Gold“ der Geisteswissenschaft, durch etwas ausgetauscht, was leichter zu tragen ist, z.B. durch die „Gans“ der Redseligkeit.

Es gab Zeiten, wo Steiners Worte nur vorgelesen wurden und ein Gespräch darüber nicht geführt wurde. Die Mitglieder hielten sich in einer gewissen Demut zurück und ließen die Worte in ihrer Seele nachwirken.

Der goldene Mittelweg wäre heute:
Man liest die geisteswissenschaftlichen Texte in Abschnitten und man wird auch darüber sprechen. Aber das Sprechen soll nur der Bewusstmachung des Gelesenen dienen. Es soll nichts hinzufügen, es soll nicht ablenken und nicht abschweifen. Die Gedanken der Sprechenden sollen keine Eigenmacht gewinnen, sie sollen sich nur in den Dienst des Gelesenen stellen. Man kann in sinnvoller Weise den Inhalt mit eigenen Worten versuchen wiederzugeben. Man kann sich dann gegenseitig ergänzen und so versuchen, dass die Beiträge das geistige Niveau des Gelesenen nicht zu sehr herunterziehen, sondern dass man gemeinsam wieder ein hohes Niveau erreicht.

Hierfür braucht es eine geschickte, einfühlsame, geistesgegenwärtige Gesprächsführung und die Bereitschaft der Mitglieder, ständig Lernende und Übende zu sein. Denn der Leiter muss sofort merken, wenn die Beiträge ihre Eigenmacht zu entfalten beginnen; wenn ein Mitglied sich selbst in den Vordergrund stellt, seine eigenen Meinungen, sein eigenes Wissen und nicht das Ringen um den Geist.
Ein jedes Gespräch wird in diesem Moment ein Übungsweg. Man nimmt nicht nur die geisteswissenschaftlichen Inhalte auf, sondern man beginnt im Gespräch zu erwachen, die Gemütlichkeit zu überwinden. So kann nicht nur der geisteswissenschaftliche Inhalt seine Wirkung entfalten, sondern auch die Form der neuen, angemessenen Gesprächsart, die sehr streng und ernsthaft gehandhabt werden muss.

Der Inhalt wird so nicht nur in Demut aufgenommen, sondern man beginnt die Demut auch in seine Gedankenbildung aufzunehmen, man beginnt sie praktisch zu üben und zu steigern. Man erkennt, dass man sie noch nicht ausreichend errungen hat.