26.2.10

Gibt es noch etwas anderes außer Anthroposophie?

In vielen Gesprächen wird immer wieder selbst von erfahrenen Anthroposophen geäußert, dass Steiner sich doch auch geirrt haben könnte oder dass man doch auch andere esoterische Richtungen und ähnliches gelten lassen müsse. Man könne doch nicht die Anthroposophie über alles stellen.

Ebenso könnte man jemandem vorwerfen, er könne doch nicht immer die Wahrheit über alles stellen, sondern gelegentlich wäre doch auch einmal der Irrtum wahr.

Dabei wird nicht beachtet, dass die anthroposophischen Inhalte nicht das eigentlich Anthroposophische sind. Das Ziel der Anthroposophie besteht darin, dass wir als Menschen in uns zu unserem eigenen Wesen finden. Darauf weist ja auch der Name Anthroposophie hin. Durch das Studium, durch die Aufnahme der Anthroposophie beginnt sich die eigene Seele zu verwandeln. Sie erlebt in sich neue Fähigkeiten und Kräfte. Solange man nur die Inhalte sieht und sie in den Vordergrund stellt, bleibt man noch an der Oberfläche.

Anthroposophie wird erst zu dem, was sie sein will, durch uns selbst. Sie wendet sich in jedem Moment an unser Ich. Sie beginnt immer stärker unsere Ich-Wesenheit zu erwecken und zu stärken.

Mit der Zeit werde ich selbst zur Anthroposophie. Mein Sprechen und Handeln wird Anthroposophie. Die Anthroposophie quillt aus mir heraus.

Anthroposophie ist in Wahrheit überhaupt nicht vergleichbar mit anderen Wissenschaften, Religionen, Philosophien oder Weltanschauungen. Sie geht viel weiter. Sie ist das sich-selbst-erkennende Sein und Werden des modernen Menschenwesens in diesem heutigen Bewusstseins-Seelen-Zeitalter.

Die Frage nach der einzigartigen Berechtigung der Anthroposophie hat etwas Abstraktes. Man könnte dann auch unmittelbar die Frage stellen: Habe ich selbst etwas Berechtigtes. Kann ich auf mein Denken und Fühlen bauen oder nicht.

Andere Weltanschauungen oder esoterische Wege neben die Anthroposophie stellen zu wollen, käme in Wahrheit dem gleich, zu sagen, man wolle nicht ständig das eigene Ich erwecken und fördern, man wolle das auch einmal schlafen lassen oder man wolle lieber etwas anderes in sich an Stelle des Ich treten lassen.

Umgekehrt kann man auch sagen, dass insofern ich durch andere Religionen oder Weltanschauungen verursacht eine Stärkung meines Ich erlebe, insofern steckt auch in anderen Anschauungen Anthroposophie darin und erweckt damit auch den Anthroposophen in mir.

Deshalb wendet sich Rudolf Steiner in seinem Werk auch so vielen Weltanschauungen offen und erkennend zu und macht uns das Anthroposophische in ihnen zugänglich.

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Zur Veranschaulichung des ersten Teiles meiner Ausführungen möchte ich ein Zitat aus "Das Christentum als mystische Tatsache.." anführen und es dann ein wenig im Hinblick auf die Anthroposophie umwandeln. In dem Zitat geht es um die Stelle aus der Apokalypse des Johannes:

"Und der Engel sprach zu mir: Nimm hin (das Buch) und verschlinge es; es wird bitter sein im Magen; doch in deinem Munde wird es süß sein gleich Honig."

Dazu führt Rudolf Steiner aus:
"Nicht allein lesen also soll Johannes in dem Büchlein; er soll es ganz in sich aufnehmen; er soll sich mit seinem Inhalt durchdringen. Was hilft alle Erkenntnis, wenn der Mensch nicht ganz lebensvoll von ihr durchdrungen wird: Leben soll die Weisheit werden; nicht Göttliches erkennen bloß soll der Mensch, vergottet soll der Mensch werden. Solche Weisheit, wie in dem Buche steht schmerzt wohl die vergängliche Natur: "es wird bitter sein im Magen"; aber sie beglückt um so mehr die ewige: "aber in deinem Munde wird es süß sein gleich Honig."

Wir nehmen Anthroposophie auf wie ein Nahrungsmittel, ganz in uns hinein. Sie wirkt und verwandelt unseren vergänglichen Menschen, wenn wir nicht nur abstrakt auf Wissensinhalte sehen. Unser ewiger, geistiger Mensch erwacht; unsere Worte und Taten werden andere als vorher.

25.2.10

"Vorwärts und rückwärts ist die Evolution immer Mensch"

Im "Goetheanum" vom 19.Februar 2010 wurde ein Artikel von Christoph Hueck mit dem obigen Tiel veröffentlicht.
Diesen wissenschaftlich hoch qualifizierten, erkenntnistheoretisch anspruchsvollen Text gründlich zu lesen, erscheint mir sehr empfehlenswert. Er bringt das Gedankenleben in Bewegung und führt es sogar in eine imaginative Richtung.
Sogar die Illusion des Phänomens "Zeit" führt er in überzeugender und schlüssiger Weise an.

22.2.10

Distanzierung von Steiner?

Es wird immer wieder gefordert, dass sich die Anthroposophische Gesellschaft von bestimmten Stellen in Steiners Werk distanzieren solle. 
Eine solche Forderung macht bei genauer Betrachtung gar keinen Sinn. Sie geht davon aus, dass diese Gesellschaft eine Art von Glaubensgemeinschaft oder Kirche sei, die auf einem Dogmengerüst beruhe.

Die anthroposophische Gesellschaft ist eine Vereinigung von freien Menschen, die sich auf der Grundlage von bestimmten Statuten zusammengefunden haben. Wenn ein Mitglied  gegen diese Statuten verstößt, dann besteht Handlungsbedarf.

Alles andere spielt sich in der Sphäre des freien Geisteslebens ab. Alle Meinungen und Forschungen stehen allen Menschen frei zur Verfügung. Jedes Mitglied ist frei, sich einer Meinung oder einem Forschungsergebnis eines anderen Menschen anzuschließen. In einer Welt, die bewusst oder unbewusst völlig nach Dogmen lebt, ist der Charakter einer wirklich freien Vereinigung auf der Grundlage eines wirklichen freien Geisteslebens wohl noch unverständlich. Daher entstehen auch solche Forderungen nach Distanzierung von gewissen Gedanken Rudolf Steiners.

Die Grundforderung eines freien anthroposophischen Geisteslebens ist, dass jedes Mitglied nur das nach außen vertritt, was es mit eigener Erkenntnis durchdrungen hat. Die Wiedergabe von anthroposophischen Inhalten ohne eigene Erkenntnis hat heute etwas Unberechtigtes, wenn es nicht - wie bei einem Zitat - verdeutlicht wird, dass man in diesem Moment nicht aus eigener Erkenntnis schreibt oder spricht. Spreche ich Inhalte nach, die ich nicht mit Anschauung und Erkenntnis durchdringe, dann hat das tatsächlich den Charakter des Glaubens oder des Dogmatischen.

Studiert man Texte, die von Anthroposophen verfasst werden, so wird man immer wieder Ungenauigkeiten in dieser Beziehung bemerken.

Jeder Mensch, ob Anthroposoph oder nicht, kann oder muss sich den Inhalten von Steiners Werk gegenüber frei fühlen. Er kann Teile annehmen oder nicht. Er kann mit seinem individuellen Erkenntnisstreben die Inhalte in sich bewahrheiten oder nicht.

Er kann selbstverständlich auch Inhalte ähnlich wie Glaubensinhalte aufnehmen, auch diese Freiheit hat er. Nur entspricht Letzteres nicht voll dem Erkenntnisanspruch, der sich aus der Anthroposophie selbst heraus ergibt. Man wird auch anthroposophische Gedanken zunächst in die eigene Seele aufnehmen, ohne sie zu verstehen oder erkannt zu haben. Man wartet dann, bis sie durch das Leben selbst oder die weitere, folgende Erkenntnisbemühung ihre Bestätigung finden. Der Erkenntnissuchende wird dann aber eher über diese Inhalte je nach den Menschen, mit denen er kommuniziert, schweigen oder dementsprechend vorsichtig sprechen.

Kein Anthroposoph muss deshalb für die Gedanken eines anderen haften, sie rechtfertigen oder widerlegen. Ich stehe mit meinen eigenen Erkenntnisse frei neben den Erkenntnissen Rudolf Steiners. Niemandem gegenüber muss seine Erkenntnisse rechtfertigen, gerade wenn sie den meinigen nicht entsprechen.

Die obigen Erörterungen beziehen sich nur auf die Frage der Erkenntnis von wahr und falsch bei anthroposophischem Geistesgut. Das Verhältnis des esoterischen Schülers diesem Geistesgut gegenüber ist damit nicht gemeint. Hier gelten andere Gesichtspunkte.


Wie absurd diese Distanzierungsforderung ist, wird vielleicht an einem historischen Vergleich deutlich: Wir alle sind heute auch in gewisser Hinsicht „Aristotelianer“, da fast unser gesamtes abendländisches Kulturleben und alle Wissenschaft in irgendeiner Weise auf der Philosophie des Aristoteles beruht, und doch wird niemand verlangen, dass man sich von dessen Haltung zur Sklaverei distanziert. Hier ist es selbstverständlich, dass das Verhältnis der heutigen Menschen zu ihm ein ganz freilassendes ist, auch wenn die ganze Welt ihren Nutzen aus seiner Philosophie hat. So kann man auch jeden beliebigen Nutzen aus der Anthroposophie für sich ziehen, ohne alle Gedanken Steiners befürworten oder erkannt haben zu müssen.

20.2.10

Das Lesen von Texten in Zweigen und Arbeitskreisen

Es ist heute vielfach in den Zweigen üblich, dass Steiner-Texte in Abschnitten gelesen werden und dass dann darüber gesprochen wird. Auf diese Weise können die Zuhörenden sich einbringen, es entsteht der Anschein von mehr Gemeinsamkeit und Gleichberechtigung. Das Gespräch über die Inhalte tritt in den Vordergrund. Damit treten natürlich auch die Sprechenden, die Mitglieder in den Vordergrund, die Viel-Wissenden, die Viel-Redenden, die Viel-Fragenden. Am Ende einer solchen Veranstaltung ist dann das Wort Steiners manchmal völlig überlagert von den Meinungen und Emotionen der Teilnehmer. Der Glanz der geistigen Inhalte verblasst. Wie bei „Hans im Glück“ wurde das „schwere Gold“ der Geisteswissenschaft, durch etwas ausgetauscht, was leichter zu tragen ist, z.B. durch die „Gans“ der Redseligkeit.

Es gab Zeiten, wo Steiners Worte nur vorgelesen wurden und ein Gespräch darüber nicht geführt wurde. Die Mitglieder hielten sich in einer gewissen Demut zurück und ließen die Worte in ihrer Seele nachwirken.

Der goldene Mittelweg wäre heute:
Man liest die geisteswissenschaftlichen Texte in Abschnitten und man wird auch darüber sprechen. Aber das Sprechen soll nur der Bewusstmachung des Gelesenen dienen. Es soll nichts hinzufügen, es soll nicht ablenken und nicht abschweifen. Die Gedanken der Sprechenden sollen keine Eigenmacht gewinnen, sie sollen sich nur in den Dienst des Gelesenen stellen. Man kann in sinnvoller Weise den Inhalt mit eigenen Worten versuchen wiederzugeben. Man kann sich dann gegenseitig ergänzen und so versuchen, dass die Beiträge das geistige Niveau des Gelesenen nicht zu sehr herunterziehen, sondern dass man gemeinsam wieder ein hohes Niveau erreicht.

Hierfür braucht es eine geschickte, einfühlsame, geistesgegenwärtige Gesprächsführung und die Bereitschaft der Mitglieder, ständig Lernende und Übende zu sein. Denn der Leiter muss sofort merken, wenn die Beiträge ihre Eigenmacht zu entfalten beginnen; wenn ein Mitglied sich selbst in den Vordergrund stellt, seine eigenen Meinungen, sein eigenes Wissen und nicht das Ringen um den Geist.
Ein jedes Gespräch wird in diesem Moment ein Übungsweg. Man nimmt nicht nur die geisteswissenschaftlichen Inhalte auf, sondern man beginnt im Gespräch zu erwachen, die Gemütlichkeit zu überwinden. So kann nicht nur der geisteswissenschaftliche Inhalt seine Wirkung entfalten, sondern auch die Form der neuen, angemessenen Gesprächsart, die sehr streng und ernsthaft gehandhabt werden muss.

Der Inhalt wird so nicht nur in Demut aufgenommen, sondern man beginnt die Demut auch in seine Gedankenbildung aufzunehmen, man beginnt sie praktisch zu üben und zu steigern. Man erkennt, dass man sie noch nicht ausreichend errungen hat.