28.2.09

Zwei Formen anthroposophischer Arbeit


Wenn man die Praxis des anthroposophischen Arbeitens - so wie sie heute weithin üblich ist - betrachtet, dann kann man zwei Hauptformen feststellen. Die erste und weitaus verbreitetere Form ist es, die anthroposophischen Inhalte in Gedankenform zu bewegen. Daran anschließend kann man zu dieser Gedankentätigkeit Seelisches hinzufügen, indem man seine Gefühle bis zu einem gewissen Grade davon anregen lässt. Aber man betrachtet das Seelische selbst nicht als Ausgangspunkt oder Quelle für die anthroposophische Arbeit.


Bei der zweiten Arbeitsform wird die Seele zum eigentlichen Ursprung des anthroposophischen Arbeitens. In ganz freier, individueller Art werden vorgegebene anthroposophische Inhalte bei ihrer Aufnahme in die Seele belebt, verwandelt und gewissermaßen wie neu erschaffen aus der eigenen Individualität heraus in die Welt getragen. Das Studium des Werkes von Rudolf Steiner wird dann viel mehr zur Nahrung der Seele, die sich dadurch zu eigener Geisttätigkeit angeregt, verkraftet und ermutigt fühlt. Oder anders ausgedrückt: Das Gelesene, Gearbeitete oder Meditierte wirkt eher wie ein Katalysator, der großes Geschehen durch seine Wirkung in der menschlichen Seele hervorruft. Anthroposophie quillt aus der individuellen Menschenseele hervor.

Die beiden Formen widersprechen sich nicht, sie gehören vielmehr zueinander, sie folgen eigentlich meist auch aufeinander. Hingewiesen werden soll hier mehr auf die jeweilige Gewichtung der beiden Formen: Findet man beide in Ausgewogenheit im eigenen Bewusstsein oder in den eigenen Reihen wieder oder kann man eine Einseitigkeit feststellen? Man könnte auch fragen: Kann man eine gewisse Notwendigkeit empfinden, von der ersten Form zur zweiten weiterzuschreiten?


Diese beiden Vorgehensweisen, mit dem Werk Rudolf Steiners umzugehen, erinnern an die unterschiedlichen Wege, die im Mittelalter die „Nominalisten“ und die „Realisten“ gegangen sind. Rudolf Steiner hat sich an verschiedenen Stellen zum Wesen des Nominalismus und des Realismus im Zeitalter der Scholastik geäußert: „Die Realisten – deren Führer Thomas von Aquino und die ihm Nahestehenden waren - fühlten noch die alte Zusammengehörigkeit von Gedanke und Ding. Sie sahen in den Gedanken ein Wirkliches, das in den Dingen lebt. Die Gedanken des Menschen sahen sie als etwas an, das als Wirklichkeit aus den Dingen in die Seele hinüberfließt. Die Nominalisten fühlten stark den Tatbestand, dass die Seele ihre Gedanken bildet. Die empfanden die Gedanken nur als Subjektives, das in der Seele lebt und das mit den Dingen nichts zu tun hat. Sie meinten: die Gedanken seine nur vom Menschen gebildete Namen für die Dinge.“ (aus: Anthroposophische Leitsätze, Im Anbruch des Michael-Zeitalters, GA 26, Seite 60).

Einige Jahrhunderte später haben sich diese Dinge verwandelt. Heute beschäftigen diese Fragen die Menschen kaum noch. Aber ihre Seelen werden – wenn auch unbewusst - durch eine andere, meiner Meinung nach vergleichbare Frage bewegt: Ist das Wahrheit, was ein Anthroposoph zu mir sagt? Steht hinter seinen Worten eine Realität ? Wie kann er belegen, was er äußert? Vielleicht bewegt . zum Beispiel ein Vortragensredner das Thema „Hierarchien“ oder „Astralleib“. Dabei spürt die Seele des Zuhörenden, ob ihm da ein Gedankengebäude - möglicherweise mit großer Eloquenz - vorgetragen wird oder ob in der Seele des Vortragenden die Realität dessen lebt, von dem er spricht.


Gewöhnlich meint heute die Mehrzahl der anthroposophisch Arbeitenden, dass als Beleg und Gewährleistung für die Richtigkeit der eigenen Äußerungen der Bezug auf das Wort Rudolf Steiners ausreiche. Dieses Wort Rudolf Steiners ist uns fast nur noch in Büchern überliefert. So hat sich eine Form des anthroposophischen Arbeitens etabliert, die sich überwiegend oder fast ausschließlich nur auf das gedruckte Werk bezieht. Dagegen werden individuelle Äußerungen von Mitgliedern, die sich scheinbar nicht direkt durch das gedruckte Werk legitimieren lassen, oft recht schnell in anthroposophischen Kreisen zurückgewiesen - manchmal bewusst – oft unbewusst.

Im Neuen Testament wird für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die eine verantwortliche und führende soziale Funktion inne hatten, die Bezeichnung „die Schriftgelehrten“ verwendet. Auch in vielen anderen heutigen Gruppierungen oder Religionen findet man dieses starke sich Beziehen auf ein vollendetes, abgeschlossenes Schrifttum. Und die eigene Arbeit besteht überwiegend darin, dass man das vorgegebene Gedankengut zu verstehen versucht, es interpretiert oder auch in immer neue Zusammenhänge stellt, und dabei dazu tendiert, alles auszuschließen oder vielleicht sogar zu verurteilen, was nicht dem Bekannten oder bereits Niedergeschriebenen entspricht.

Gewöhnlich zeichnet sich dann ein Vortragsredner dadurch aus, dass er viel gelesen und vielleicht auch intellektuell verstanden hat, dass er eine höhere Funktion im äußeren Leben oder in der eigenen Gesellschaft einnimmt, dass er eloquenter ist oder sich vielleicht durch die Veröffentlichung eines Buches profiliert hat. Geradezu Enthusiasmus kann es bei manchen Menschen auslösen, wenn in Vorträgen viele „hohe“ Begriffe und vielleicht auch besondere, esoterische Gedanken, die man bei Rudolf Steiner gelesen hat, ausgesprochen werden.


Diese Arbeitsform ändert sich auch nicht, wenn man die Kreise öffnet und mehr interessierte Menschen als früher in das Gespräch einbezieht - auch auf Hochschulebene-, wenn nicht eine Änderung in dem gesamten inneren Duktus der Arbeit eintritt. Es kann in der heutigen anthroposophischen Gruppenarbeit vorkommen, dass wörtlich ausgesprochen - sogar von Hochschulverantwortlichen - die Überzeugung und damit auch die Gesprächsregel gilt: Wir können keine eigene Geisterkenntnis haben! Dahinter steht die Furcht vor eigenständigen Geisterfahrungen der Mitglieder. Auf diese Furcht hat Rudolf Steiner verschiedentlich hingewiesen. Diese ist ja verständlich und zunächst auch berechtigt. Das mag nicht überall so wörtlich in den Zweigen ausgesprochen sein, aber es spiegelt sich dennoch in vielen Vorträgen und Büchern wider.

Nimmt man das Geistige als Realität, dann steht hinter jedem geschriebenen oder gesprochenen Wort eine wahrhaftige, wirkliche Wesenheit. In gewisser Weise betritt diese Wesenheit in dem Augenblicke den Raum, in dem ihr Name ausgesprochen wird. Und die Frage an den Sprechenden ist, ob er er persönlich in diesem Moment der Wesenheit gerecht wird, die er anspricht. Anders ausgedrückt: Hat er eine Berechtigung, den Namen dieser oder jener Wesenheit auszusprechen? Wer wie Rudolf Steiner den Menschheitsrepräsentanten geschaut hat, der wird seinen Namen mit einer anderen Berechtigung nennen, als der, der von ihm gelesen hat. Wer den Namen einer Widersachermacht verwendet, ist sich dieser im selbigen Augenblicke bewusst, welches geistige Geschehen er dadurch hervorruft?


Wenn man beginnt, das Geistige als Realität anzusehen, wir man zurückhaltender und vorsichtiger im Nennen der Begriffe und Namen. Weil er die Realitäten vor Augen hatte, so hat Rudolf Steiner z.B. für die gedruckte Version des Grundsteinspruches eine andere Formulierung verwendet als für die während der Weihnachtstagung vor den Ohren der Mitglieder gesprochene Fassung.


Immer wieder hören wir Hinweise darauf, wieviele Jahre oder Jahrzehnte Rudolf Steiner eine Erkenntnis in seinem Inneren geprüft und bewegt hat, bevor er es wagte, sie in dieser Welt zu äußern. Bei ihm steht hinter jedem Wort ein lange geprüftes Erleben. Seine Bücher oder Vorträge sind innerlich gedeckt und gesättigt von gedankendurchdrungener Schauung. Oft beschreibt er einfach nur dieses Erleben. Auf dieser Tatsache beruht auch die große Wirkung von Rudolf Steiners Worten.

Wenn man sich deutlich macht, dass in unserem Denken das Geistige erstorben ist und es die große Aufgabe der anthroposophischen Arbeit ist, dieses Geistige wieder zu beleben, dann ergeben sich daraus reale Konsequenzen. Anthroposophische Arbeit wird befruchtet und belebt durch das innere geistig-seelische Erleben der Mitglieder. Dieses Erleben wird geweckt, gesteigert, befeuert und geläutert durch den Schulungsweg, die Meditation und die damit verbundene Selbsterkenntnis.

Das Innere eines jeden Menschen auf dem Schulungsweg ist in Zukunft die eigentliche, lebendige Quelle des Geistigen. Dieses Geistige kann dann mit jedem Satz den ein solcher Mensch, der auf dem Schulungsweg ist, äußert, neu, originär und individuell sein. Man wird für solche Äußerungen vielleicht nicht unbedingt einen wörtlichen Beleg in Steiners Werk finden, aber jeder Zuhörer wird in seiner Seele erleben können, ob hinter den Worten eine Wahrheit und Wirklichkeit steht oder nicht.


Der Nominalismus in seiner heutigen Form ist unter anderem auch das Bewegen anthroposophischer Gedanken ohne wirkliches, wahrhaftiges eigenes Erfahren und Erleben. Es ist das Beharren in einem Gedankenleben, das erstorben ist, gleichgültig wieviel gefühlsmäßige Begeisterung hinzugefügt wird. Es erfasst nicht die volle Tatsache, wenn man meint, dass der Nominalismus heute nur in der Sphäre des äußeren Wissenschaftsbetriebes seine Fortsetzung gefunden hat. Man muss ihn auch auf dem eigenen Gebiet der anthroposophischen Arbeit erkennen können, um ihn zu überwinden. Menschenkundlich betrachtet kann man feststellen, dass diese Art der anthroposophischen Arbeit in stark einseitiger Weise ihren Ursprung ihm menschlichen Kopfbereich hat.

Der neue Realismus ist das Sprechen ganz aus dem eigenen, wirklichkeitsgemäß erlebten Seelischen heraus. In der Seele des anthroposophischen Schülers bekommt die Anthroposophie eine völlig neue, individuelle Gestalt. Man beginnt mit dem Wesenhaften in Verbindung zu treten. Oft wird dieses so ausgedrückt: Man spricht nicht mehr über das Geistige, sondern aus dem Geistigen heraus - auch wenn dieses Geistige noch so bescheiden sein mag. Rudolf Steiner gibt als Ort für dieses neue Denken das Herz an. Auch diese Formel wird heute häufiger und häufiger ausgesprochen, was aber dennoch nicht heißt, dass das schon in ausreichendem Maße anerkannt wäre und zum Tragen kommen würde.

In dem eingangs erwähnten Michaelsbrief wird von Rudolf Steiner darauf hingedeutet, wie die unbewusste Furcht vor dem realen Wirken des Geistigen aus den Seelen der Mitglieder heraus in der gemeinschaftlichen Arbeit der Anthroposophen überwunden werden kann:

Michael „befreit die Gedanken aus dem Bereich des Kopfes; er macht ihnen den Weg zum Herzen frei; er löst die Begeisterung aus dem Gemüte los, so dass der Mensch in seelischer Hingabe leben kann an alles, was sich im Gedankenlicht erfahren lässt. Das Michaelszeitalter ist angebrochen. Die Herzen beginnen Gedanken zu haben; die Begeisterung entströmt nicht mehr bloß mystischem Dunkel, sondern gedankengetragener Seelenklarheit. Dies verstehen heißt Michael in sein Gemüt aufnehmen. Gedanken, die heute nach dem Erfassen des Geistigen trachten, müssen Herzen entstammen, die für Michael als den feurigen Gedankenfürsten des Weltalls schlagen.“ (a.a.O. Seite 62)