27.8.08

Esoterik in der anthroposophischen Gesellschaft

"Den Geist des bloss Gedachten werden die Menschen eintauschen müssen für den Geist der unmittelbaren Anschauung, des unmittelbaren Mitfühlens und Miterlebens von dem an der Seite aller Menschenseelen geistig-lebendig schreitenden Christus"
R.St. GA 152, S. 92 zitiert nach Peter Selg, Die Gestalt Christi, S.44


In der letzten Zeit hat man den Eindruck, dass der Zusammenhang zwischen Esoterik und Anthroposophie eine Frage ist, die häufiger bewegt wird. Gewöhnlich ist es in der Menschheitsentwicklung immer so, dass man beginnt über eine Thema nachzudenken, wenn der eigentliche Inhalt bereits entschwunden ist oder zu verschwinden droht. So begannen die Gelehrten über den Gottesbegriff zu diskutieren, als man das Göttliche in der Wissenschaft bereits mehr oder weniger verloren hatte.


Damit ist auch schon die Aufgabe deutlich, die den Anthroposophen gestellt ist: Anthroposophie und Esoterik müssen miteinander verbunden bleiben. Anthroposophie und Esoterik bilden eine Einheit, wie Leib und Seele. Anthroposophische Worte und Taten, die nicht von einem von Esoterik durchdrungenen Fühlen und Denken hervorgebracht werden, entbehren gewissermaßen des Seelisch-Geistigen- sogar wenn sie dieses verbal zu ihrem Inhalt haben. Es tritt einem dann überwiegend ein mumienartiges Gedankengebilde entgegen.


So wird es für das Gedeihen der Anthroposophie in nächster Zeit notwendig sein, dass die verantwortlich Tätigen mehr und mehr danach streben, in sich das wahrhaft Esoterische zu erwecken, was nur durch das Beschreiten des Schulungsweges möglich ist. Man wird dadurch vielleicht in Zukunft mehr Zeit in den Schulungsweg investieren und weniger Zeit in das Schreiben von Artikeln und Büchern. Aber die Bücher und Artikel, die dann geschrieben würden, enthielten eine besondere geistige Substanz.


Das Esoterische ist völlig unabhängig von Zeit- und Weltentwicklungen, wie Rudolf Steiner verschiedentlich verdeutlichte. Eigentlich gibt es deshalb auch keine moderne Esoterik. Modern ist, dass heute die Inhalte weitgehend nicht mehr geheim sind, sondern allen Menschen zur Verfügung stehen können. Jeder Mensch hat heute die Möglichkeit esoterisch zu arbeiten und dadurch Kräfte in sich zu entwickeln, die durch die äußere Welt nicht zur Entfaltung gebracht werden können. Für Persönlichkeiten, die in der Anthroposophischen Gesellschaft Verantwortung tragen, wird die geistige Schulung zur wichtigsten Voraussetzung. Sie sind diejenigen, an denen sich die Mitglieder orientieren. Sie hemmen oder fördern indirekt oder unbewusst die geistige Entwicklung der Mitglieder, je nach der Energie und Willensstärke, mit der sie selber geistig voranschreiten.


Das Esoterische ist zunächst immer ein kleines, zartes Pflänzchen, das nur langsam heranwächst. Viel Liebe, Geduld und Pflege braucht, bis es erstarkt und Früchte trägt. Wenn man aktuelle Zeit- und Weltverhältnisse betrachtet und sie geisteswissenschaftlich betrachten will, dann wird man nicht sofort zu Erkenntnissen oder Urteilen kommen können, sondern die entsprechenden geistigen Erfahrungen reifen nur langsam heran. Häufig entsprechen solche geistgemäßen Erkenntnisse, dann nicht dem, was man schon kennt oder schon gedacht hat. Auch nicht dem, was weit verbreiteten Meinungen und Urteilen entspricht, seien diese noch so modern, alternativ oder kritisch. Gerade darin liegt ein Maßstab für den Wahrheitsgehalt geistgemäßer Urteile, dass man sie sich sehr schwer abringt, dass sie ungewöhnlich, unbequem oder gar überraschend erscheinen.


Die Anthroposophie und die Anthroposophische Gesellschaft können nur weiter gedeihen, wenn nicht nur die geistige Arbeit, sondern auch alle Urteile und Beschlüsse in Verwaltungs- und Sachbereichen aus einer solchen esoterischen Gesinnung und Praxis heraus getroffen werden. Diese Forderung stellte Rudolf Steiner uns bei der Weihnachtstagung. Er wollte, dass von nun an alles Verwaltungsmäßige von Esoterik durchdrungen sei. Das klingt zunächst immer ein wenig wie ein Rätsel. Aber wenn man in anthroposophischen Zusammenhängen Verwaltungsmäßiges zu verantworten hat, dann beginnt man zu erleben und zu verstehen, was damit gemeint ist. Man wird dann vielen Forderungen, die aus dem Alltagsbewusstsein auch des anthroposophischen Umkreises entsprungen sind, nicht mehr so einfach nachkommen können. Sondern man wird aus einem gesteigerten Ernst und einem Verantwortlichkeitsgefühl der höchsten Wahrheit gegenüber entscheiden und handeln. Der Persönlichkeitsgeist wird durch das ernsthafteste moralische Streben überwunden werden.


Und die wichtigste esoterische Forderung bei alledem ist, dass man von einem Denken-des-Geistigen zu einem eigenen, individuellen Geist-Erleben fortschreitet. Die Aufgaben, die heute gestellt sind, lassen sich nicht mehr auf die herkömmliche Weise, wie man das Geistige zu denken versuchte, bewältigen. Es muss auf dem esoterischen Wege zum Erleben vorangeschritten werden. Dadurch entsteht im strebenden Menschen neues Leben. Dieses neu errungene Leben tragen diese Menschen in die anthroposophischen Gemeinschaften hinein und beleben damit auch die gemeinsamen Gespräche. Und genau diese Belebung ersehnen die Menschen heute.


Gedanklich theoretische Erarbeitung der Anthroposophie ist wohl bis zu einem gewissen Zeitpunkt eine notwendige Grundlage für die Entfaltung des Anthroposophischen. Aber es verliert seine Berechtigung, wenn nicht sehr bald auf diesem Boden das neue Leben ersprießt, das dann die Geist- und Seelennahrung für die Mitglieder hervorbringen wird. Sonst beginnen die Mitglieder unbewusst seelisch zu hungern und sie beginnen sich in der Welt umzusehen, ob es noch etwas anderes gibt, was ihnen Nahrung gibt. Es kommt dann zu der weiterverbreiteten, aber kaum erkannten Situation, dass treue Mitglieder, gleichzeitig sich innerlich anderen Richtungen verbinden, die ihnen eine Nische des Gefühlslebens erfüllen, während sie gleichzeitig mit dem Kopf anthroposophische Schriften studieren.


Heute ist es notwendig, dass der anthroposophisch Vortragende restlos wahrhaftig und konsequent aus seinem individuellen inneren Erleben und aus dem persönlich geistig Erarbeiteten heraus spreche. Keine individuelle geistige Spekulation, sondern echte, gedankenklare, von Leben erfüllte Erkenntnis aus dem eigenen Schaffensprozess heraus. Individualisierte Anthroposophie erreicht dann die Herzen der Zuhörenden.


Wer esoterisch an der Verlebendigung des Geschriebenen, gedruckten Wortes arbeitet, der geht zugleich den Weg von der Gedanken-Erkenntnis hinauf zur imaginativen Tätigkeit. Diesen Schritt sah Rudolf Steiner immer als notwendig an.